insider Ausgabe 03/2020 Online
schafften die Mitarbeiter bereits im Herbst 1945 wichtige Unterlagen aus Gotha in zahlreichen Transporten heimlich über die grüne Zonengrenze nach Göttingen in die britische Besatzungszone. Im November 1945 gründete die Lebens- versicherungsbank dann dort offiziell eine Zweigniederlas- sung. Die Feuerversicherungsbank siedelte sich in Köln an, da dort schon Grundstücke im Besitz des Unternehmens waren. In den Nachkriegsjahren profitierte die Gothaer vom Wirtschaftswunder und wuchs rasant. Bis 1969 stiegen die Brutto-Beitragseinnahmen der Feuerversicherung auf über 234 Mio. DM und hatten sich damit seit 1950 mehr als ver- zehnfacht. Heute decken wir alle Sparten ab, haben 4,1 Mio. Mitglieder und Beitragseinnahmen von 4,5 Mrd. Euro. : In den vergangenen beiden Jahrhunderten hat sich aus der Gothaer Feuerversicherungsbank ein Konzern mit Lebens-, Kranken- und sämtlichen Sachversicherungs- sparten entwickelt. Speziell das Thema Nachhaltigkeit wird dabei von Ihrem Haus seit Jahren forciert. Was planen Sie künftig in diesem Zusammenhang? Brüß: Nachhaltigkeit ist für uns als Versicherungsverein Teil unserer DNA, das Thema begleitet uns von Anfang an und ist aktueller denn je. In den 1990ern waren wir die Ersten, die Windkraftanlagen versichert haben, und wir sind seit Jahren Marktführer in diesem Segment. Wir sind aber auch als gro- ßer Investor in diesem Segment vertreten: Mehr als 1 Mrd. Euro unseres Kapitalanlagevolumens sind in erneuerbare Energien investiert. In unserem Jubiläumsjahr gehen wir jetzt die nächsten Schritte: In Kürze wird unsere Hauptverwal- tung in Köln CO 2 -neutral sein und zum Geburtstag am 2. Juli 2020 gründen wir die Gothaer Stiftung, die Projekte aus dem Umwelt- und Naturschutz unterstützen und Grundlagenfor- schung fördern wird. << JAHRE GOTHAER : 200 Jahre Gothaer. Eine stolze Zahl. Wie kam es dazu, dass Ernst Wilhelm Arnoldi einst mit der Gothaer Feuerversicherungsbank einen deutschen Versicherungs- verein auf Gegenseitigkeit für den deutschen Handelsstand gründete? Oliver Brüß: Anfang des 19. Jahrhunderts gab es noch kei- ne größeren deutschen Versicherer. Die englischen Anbieter nutzten ihre Monopolstellung für hohe Beiträge und dürftige Leistungen. Den letzten Ausschlag hat dann der Brand in einer Gothaer Tabakfabrik gegeben, die bei der Londoner Feuer- versicherung Phoenix versichert war. Als die Phoenix einmal mehr die Zahlung verweigerte, entschloss sich Arnoldi, das nicht länger hinzunehmen. Seine Idee: Die deutschen Fabriken und Manufakturen gründen gemeinsam eine Feuerversicherung. Alle Kaufleute haben ein ähnliches Risiko, jeder zahlt einen ge- wissen Betrag in die Versicherung ein und aus diesem Geld werden dann die Schä- den der versicherten Unternehmen be- glichen. Damit wurde das Prinzip der Gegenseitigkeit geboren. Anlässlich ihres 200-jährigen Jubiläums hatte die Gothaer Versicherung am 2. Juli 2020 einen Zukunftskongress mit wichtigen Gästen aus der Branche und ein großes Sommerfest für die eigenen Mitarbeiter und deren Familien geplant. Beides musste aufgrund der Corona-Pandemie ins nächste Jahr verschoben werden. Dennoch wird der Geburtstag dieses Jahr gefeiert, indem etwa in der Jubiläumswoche eine Ausstellung zur Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Gothaer eröffnet wird, die dann auch digital zur Verfügung stehen wird. Diesbezüglich unterhielt sich die insider-Redaktion mit Oliver Brüß, Vertriebsvorstand im Gothaer Konzern, über die Anfänge und die Entwicklung des Kölner Versicherers. 47 46 : In welchen Bereichen wollte er mit seiner Pro- duktlösung einen Mehrwert anbieten? Brüß: Im ersten Schritt bot das Unternehmen eine klassische Feuerversicherung an. Versichert wurden zunächst nur wech- selfähige Kaufleute, Apotheker, Buchhändler und Fabrikbesit- zer „von unbescholtenem Rufe“. Als etwa Prinz Leopold von Coburg, der spätere König von Belgien, um eine Versiche- rung ersuchte, lehnte die Bank ab – der Prinz war kein Kauf- mann. Heute können sich natürlich auch Privatkunden bei der Gothaer versichern, aber wir sind noch immer ein führender Partner des Mittelstands. : Ein Lebensmotto von Arnoldi lautete: „Du handelst für dich, wenn du für andere lebst.“ Wird diese Verhaltens- regel auch heute noch in der Unternehmensphilosophie der Gothaer gelebt? Brüß: Dieses Motto leitet uns auch heute noch und findet sich in unserem Antrieb – „In der Gemeinschaft Werte schützen“ – wieder. Gerade in der Corona-Pandemie war die große Soli- darität innerhalb der Gothaer sehr stark zu spüren. Mitarbeiter haben zum Beispiel 7.000 Überstunden für Kollegen gespen- det, die wegen der Betreuung ihrer Kinder nicht die volle Ar- beitszeit leisten konnten. Aber die Kraft der Gothaer Gemein- schaft konnten auch unsere Vertriebspartner und Kunden in der Krise erleben. Wir haben vielfältige Unterstützung ange- boten, von der entgeltfreien Rechtsberatung bis hin zu einer kostenlosen Unfallversicherung für Kinder, die nicht in die Kita oder Schule gehen konnten. : Zentraler Erfolgsfaktor war bereits damals der Vertrieb. Arnoldi soll recht schnell ein Netz von Agenten in Deutschland aufgebaut haben. Wie ist ihm das gelungen? Brüß: Ein Geheimnis für Arnoldis schnellen Erfolg war in der Tat das dichte Vertriebsnetz, das er in wenigen Jahren über alle deutschen Staaten aufbaute. Er nutzte dazu sein beste- © jirsak - stock.adobe.com © Deutsches Instituts fuer Altersvorsorge (DIA), 2012 hendes Netzwerk aus Kaufleuten. Sie wurden zu „Agenten“, die dann neben- bei die Versicherungen der Gothaer ver- kauften. 1823 waren es bereits 250 im deutschsprachigen Raum. : Der Vertriebsphilosophie blieb die Gothaer treu. Vor dem Hin- tergrund des digitalen Wandels: Wie wichtig ist der Vertrieb heutzutage noch? Brüß: Die persönliche Beratung durch einen kompetenten Berater ist auch weiterhin von enormer Bedeutung. Eine Gothaer Befragung hat erst kürzlich wieder ergeben, dass bei Abschluss eines Neuvertrages mit Abstand die meisten Deutschen auf den Versiche- rungsberater setzen, bei komplizier- teren Themen wie der Altersvorsorge sind es sogar 74 Prozent. Aber auch Sachversicherungen (60 Prozent) oder Krankenzusatzversicherungen (53 Prozent) werden bevorzugt über den Vermittler abgeschlossen. Der personale Vertrieb ist daher unentbehrlich. : Zurück in die Vergangenheit: 1842 kam es zum großen Stadtbrand in Hamburg. Welche Konsequenzen er- gaben sich daraus für die Gothaer? Brüß: Der Hamburger Brand war in der Tat eine große Be- lastungsprobe für das damals mit 22 Jahren noch junge Un- ternehmen. Die zahlreichen Neider des Erfolgs hatten dann auch gehofft, dass dieses Ereignis die Gothaer in die Knie zwingen würde. Doch die Feuerversicherungsbank zahlte innerhalb von drei Monaten 1.377.651 Taler an Entschädi- gungen aus und bewies damit sehr eindrucksvoll, dass der Gegenseitigkeitsverein auch einer so großen finanziellen He- rausforderung gewachsen ist. Da viele Versicherte Bargeld benötigten, wurde ein Teil des Geldes in Säcken von Berlin auf dem Wasserweg nach Hamburg gebracht. Um den Ver- lust auszugleichen, musste die Bank von ihren Versicherten allerdings einen Nachschuss in Höhe von 93 Prozent einer Jahresprämie erheben – zum ersten und einzigen Mal in der Unternehmensgeschichte. : Das Wachstum der Folgejahre wurde jäh durch die Folgen der beiden Weltkriege gestoppt. Mit dem Besat- zungswechsel im Juli 1945 kam es diesbezüglich nicht nur zum Wechsel des Firmensitzes: Wie stellte sich die Gothaer nach 1945 auf? Brüß: Da nach Kriegsende schnell klar wurde, dass der Be- trieb privater Versicherungsgesellschaften in der sowje- tischen Besatzungszone nicht mehr möglich sein würde, Oliver Brüß ist seit dem 1. Januar 2016 Mitglied des Vorstandes der Gothaer und verantwortet seit 1. Mai 2016 als Vertriebsvorstand im Gothaer Konzern die Querschnittsressorts Vertrieb und Marketing sowie Presse und Unternehmenskommunikation. Der ausgebildete Versicherungskaufmann und Betriebswirt war zuvor viele Jahre in unterschiedlichen Führungs- positionen – etwa als Vorstand und Vorstandssprecher – bei renommierten Versicherern tätig.
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy OTE4MzI3